philosophische Anthropologie: Selbstdeutungen des Menschen

philosophische Anthropologie: Selbstdeutungen des Menschen
philosophische Anthropologie: Selbstdeutungen des Menschen
 
Als eigenständige philosophische Strömung etablierte sich die philosophische Anthropologie in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts, vor allem im deutschen Sprachraum. Ihre Begründer sind Max Scheler und Helmuth Plessner, weitere wichtige Vertreter sind Theodor Litt, Erich Rothacker, Otto Friedrich Bollnow, Arnold Gehlen und Michael Landmann. Die Entstehungszeit dieser Denkrichtung, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, verweist auf deren geschichtlichen Hintergrund: die tief gehenden Erschütterungen und Umbrüche beim Übergang von einer noch weitgehend durch polititsche und religiöse Traditionen bestimmten Gesellschaft zu einer Industrie- und Massengesellschaft. Die philosophische Anthropologie reagierte darauf, dass, wie Scheler 1928 schrieb, »zu keiner Zeit der Geschichte der Mensch sich so problematisch geworden ist wie in der Gegenwart«.
 
Freilich ist der Mensch - und darauf hat gerade die philosophische Anthropologie hingewiesen - sich prinzipiell und seit jeher problematisch: Da sein Instinktleben größtenteils zurückgebildet ist, muss er der Welt, in der er lebt, immer schon Sinn und Bedeutung abgewinnen oder geben. So gesehen, ist die »Anthropologie«, die Lehre vom Menschen, so alt wie die menschliche Kultur selbst. Bereits in den geschichtlich frühesten Ritualen, Mythen und Symbolen waren teils ausdrückliche, teils implizite Lehren vom Menschen, von seiner Beziehung zur Natur, zu seinesgleichen und zur Welt im Ganzen enthalten. Die mythischen Selbstdeutungen des Menschen entwickelten sich dann zu religiösen Weltbildern fort, die dem Menschen jeweils seinen Ort innerhalb einer als verbindlich vorgestellten, durch ein göttliches Sein begründeten Ordnung zuwiesen.
 
Philosophische Aussagen über das Wesen des Menschen gab es, seit in der griechischen Kultur des 5. Jahrhunderts v. Chr. die früheren Spekulationen der Naturphilosophie über das Sein im Ganzen durch die Auffassung der Sophisten abgelöst wurden, dass die Welt eben das ist, was die Menschen handelnd hervorbringen und aufgrund ihrer Organausstattung erkennen können. Die Sophisten verwarfen mythisch-religiöse und metaphysische Deutungen und Rechtfertigungen der menschlichen Ordnung. Sie sahen die Gesellschaft als auf (prinzipiell kritisierbaren) Konventionen gegründet an. Den Ursprung der Kultur erklärten sie im Rekurs auf die Stärken und Schwächen, durch die sich der Mensch von den Tieren unterscheidet. Bis ins 20. Jahrhundert zieht sich durch die Geschichte der philosophischen Anthropologie die Grundthese und Leitthematik vom Menschen als »Mängelwesen«: Da der Mensch im Unterschied zum Tier weder über eine spezialisierte Organausstattung verfügt noch durch Instinkte festgelegt ist, kann und muss er seine Daseinsweise selbst entwerfen.
 
Seit der Renaissance wurden anthropologische Fragen nicht nur in Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie, sondern zunehmend auch im Rahmen empirischer Wissenschaften artikuliert. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts taucht der Ausdruck »Anthropologie« zum ersten Mal im Schrifttum auf, und zwar im Sinn von Physiologie und Psychologie. Allerdings wurde noch in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht scharf zwischen empirisch-wissenschaftlicher Hypothesenbildung und philosophischer Reflexion unterschieden. Erst Immanuel Kant trennte streng Tatsachenfragen von Fragen des Sinnverstehens. Entsprechend unterschied er zwei Grundrichtungen von Anthropologie, eine naturwissenschaftliche (»physiologische«) und eine philosophische (»pragmatische«): »Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als frei handelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.« Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelten sich beide Formen von Anthropologie zunehmend auseinander.
 
Die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts wollte den neuzeitlichen Zerfall eines einheitlichen Menschenbildes überwinden. Sie reagierte damit insbesondere auf die zunehmende Spezialisierung der verschiedenen Wissenschaften vom Menschen und hielt ihnen beharrlich entgegen, dass verbindliche Aussagen über das »Wesen« des Menschen grundsätzlich niemals in den engen Grenzen der Einzelwissenschaften gemacht werden können. Bei der Wesenserkenntnis des Menschen bezogen sich Scheler und vor allem Plessner auf die »Phänomenologie« Edmund Husserls. Dieser wollte mit seiner Lehre von der »Wesensschau« den Weg zu den Erscheinungen freimachen, der bei der natürlichen und einzelwissenschaftlichen Einstellung von den Vor-Urteilen über das, was da erscheint, verbaut ist. Dem entsprechend wollte die philosophische Anthropologie nicht die Resultate der empirischen Humanwissenschaften zu noch höheren Abstraktionen synthetisieren, sondern umgekehrt diejenigen Prinzipien erforschen, die den einzelwissenschaftlichen Fragestellungen vorausgehen. Das Sein des Menschen sei, anders als das der äußeren Natur, nicht unabhängig von dem Sinnverstehen zu erfassen, durch das die Menschen sich selbst in ihrer jeweiligen Lebensform verwirklichen.
 
Die »Stellung des Menschen im Kosmos« - so der Titel von Schelers für die philosophische Anthropologie grundlegender Schrift - besteht vor allem darin, dass er, im Unterschied zu den Tieren, über eine Wissens- und Verhaltensform verfügt, die prinzipiell die Triebhaftigkeit des tierischen Lebens überschreitet: Der Mensch als »geistiges Wesen« ist »weltoffen«. Diese für die Philosophie immer schon leitende Intuition konnte nun auf dem Hintergrund der biologischen Forschungen Jakob von Uexkülls zum Begriff der tierischen »Umwelt« präzise bestimmt werden. Uexküll, der Begründer der Umweltforschung, hatte experimentell nachgewiesen, dass das Tier mit seiner speziellen Organausstattung einer jeweils artspezifischen Umwelt zugehört, durch die seine Lebensweise festgelegt ist. Gemessen an diesem biologischen Begriff der Umwelt ist der Mensch wesenhaft »umweltfrei«, er distanziert die »Umwelt« zur »Welt«.
 
Scheler zufolge ist das menschliche Vermögen, das den Bann der Instinkte und spezifischen Umwelten durchbricht, und die Sonderstellung des Menschen begründet, der »Geist«. Diesen stellte er insbesondere der technisch-instrumentellen Intelligenz gegenüber, über die ansatzweise auch schon Affen verfügen (was der Psychologe Wolfgang Köhler in berühmten Experimenten nachgewiesen hatte). Mithilfe des Geistes könne der Mensch sein dingliches und personelles Gegenüber als solches erfassen, unabhängig von seinen Bedürfnissen; er könne in der einzelnen Wahrnehmung zugleich ein allgemeines Merkmal der Welt erschauen. Zum Geist gehörten Sachlichkeit, Selbstbewusstsein und moralische Verantwortlichkeit. Scheler setzte den Geist wegen seiner Fähigkeit zur Triebverneinung in einen radikalen Gegensatz zum »Leben«. Zwar empfange der Geist alle Kraft nur vom Lebensdrang, aber er allein könne die natürlichen Impulse lenken.
 
Damit fiel Scheler allerdings in die alten metaphysischen Entgegensetzungen von Leib und Seele oder von Körper und Bewusstsein zurück, die zu überwinden die philosophische Anthropologie eigentlich angetreten war. Während sein Begriff des Menschen noch weitgehend auf dessen Innenwelt hin konzipiert war, begriff Plessner in seiner grundlegenden Schrift »Die Stufen des Organischen und der Mensch« die personale Sphäre wesenhaft als eine, die auf eine »Mitwelt« bezogen ist. Die Sozialität ist, so Plessner, eine Realisation des »Geistes«. Indem der Mensch imstande sei, »wir« zu sagen und so die raumzeitliche Verschiedenheit der einzelnen Individuen aufzuheben, könne er sich als Körper unter Körpern, die die »Außenwelt« bilden, und zugleich als lebendiger Leib mit einer »Innenwelt« sehen. Plessner kennzeichnete diese Positionierung der menschlichen Erlebensstruktur als »Exzentrizität«: Das Tier agiere zentrisch, als ein auf sich selbst rückbezügliches System, es lebe aus seiner Mitte heraus, aber nicht als Mitte. Demgegenüber vermöge der Mensch sich von seinen Erlebnissen selbst zu distanzieren, und indem er sich als Mitte erlebe, stehe er zugleich außer ihr.
 
Mit Gehlen entfernte sich dann die philosophische Anthropologie ein weiteres Stück von ihren phänomenologischen Quellen. Gehlen stellte den Begriff der nach außen gerichteten Handlung ins Zentrum seiner Anthropologie. Er führte die »Natur« des Menschen, einschließlich seiner Kultur, auf die praktische Lebensbewältigung und die dabei erforderlichen Strategien der »Entlastung« zurück. Der Mensch sei, biologisch gesehen, ein Mängelwesen, dessen Verhaltensstruktur im Unterschied zum Tier als instinktentbunden, antriebsüberschüssig und weltoffen bestimmt sei. Auf dieser Basis schaffe er sich die Kultur als seine »zweite Natur«. Damit wurde Gehlen zum Kritiker der noch für die Anthropologie Schelers und Plessners charakteristischen Stufentheorie: Die Handlungsstruktur komme nicht bloß als höchste Stufe zusätzlich zu den Entwicklungsstufen des vegetativen und organischen Lebens hinzu, sondern durchdringe auch schon diese Stufen im Menschen und passe auch sie in das spezifisch menschliche Weltverhältnis ein.
 
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrig überschritt die philosophische Anthropologie ihre ursprüngliche biologische Orientierung und bezog zunehmend das gesellschaftliche Verhalten mit ein. Sie wurde in Deutschland, wie zuvor schon in den angelsächsischen Ländern und in Frankreich, zur »Kulturanthropologie«, die die verschiedenen Lebenswelten als geschichtlich gewordene und veränderliche untersucht. Umweltgebundenheit und Weltoffenheit erwiesen sich dabei als keineswegs so ausschließend entgegengesetzt, wie zunächst angenommen. Vielmehr zeigte sich, dass die kulturellen Traditionen, die Sprachen und die Institutionen Verhaltensanweisungen enthalten, die den Menschen in seinem Denken und Handeln unmittelbar einengen und festlegen, auch wenn sie prinzipiell kritisierbar sind. So thematisiert die philosophische Anthropologie zunehmend, dass es »den« Menschen gar nicht gibt, und stellt damit selbst ihr ursprüngliches Erkenntnisziel in Frage.
 
Prof. Dr. Gunzelin Schmid Noerr
 
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.
 
Philosophie der Gegenwart, herausgegeben von Josef Speck. 6 Bände. Göttingen 2-31984—92.
 
Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 2-31996—98.
 Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. 4 Bände. Stuttgart 1-81987—89.

Universal-Lexikon. 2012.

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